Wenn du nach dem Konzert direkt den neuen Termin fürs nächste Jahr suchst, ihn dir unmittelbar einträgst, gleich an mehrere Leute Tickets für eben jene Show zu Weihnachten verschenkst, im nächsten Jahr alle von dem Konzert sowie von der Geschenkidee überzeugt hast, sie sich daraufhin auch Tickets für darauf das Jahr kaufen – dann warst du bei Guildo Horn & Die Orthopädischen Strümpfe. Es kann gar keine andere Option geben. Es ist wie ein Rausch. Wie ein Leuchten am Firmament, dem du entgegenblickst und auf das du voller Glückseligkeit zurennen magst.
Wie viele Jahre haben wir bereits verpasst, die wir leider nicht mehr nachholen können? Aus unerklärlichen Gründen ist es bis vor zwei Jahren berührungslos an uns vorbeigehuscht – Weihnachten mit Guildo, eine Tour, die ihresgleichen sucht. Guildo Horn, irgendwo zwischen Musiker, Satiriker, Pädagoge, Radiomoderator, Musicaldarsteller und Mensch, wie er es selbst nennt, ist das, wofür das Wort Koryphäe erfunden wurde. Ihm dabei zuzuschauen, wie er sein Programm durchzieht, ist ein ziemlich besonderes Erlebnis. Da kommen verdammt viele Gefühle und Gedanken gleichzeitig auf, und man weiß wirklich nicht, was in einem gerade dominiert. So viele Jahre verpasst. Wir trauern tief, aber nun haben wir uns quasi lebenslänglich verpflichtet.
Seit 1994 gibt es die Tradition, kurz vor Heiligabend mit Guildo, dem mittlerweile 60-jährigen Wahl-Mucher – das liegt im Bergischen Land im Regierungsbezirk Köln – ein Konglomerat aus Weihnachtsparty, Weihnachtssingen und Comedyshow zu erleben. Angefangen hat das Spektakel mit einem Gig in Trier. 2023 sind es 19 Shows, davon 16 in NRW. Ausverkauft sind bis auf zwei, drei Vorstellungen alle. Manche übrigens seit letztem Dezember. Nein, das ist kein Witz. Wie war das nochmal mit Skihütten für Silvester ein Jahr vorab buchen? Selbes Spiel.
Die Christuskirche in Bochum ist fest gesetzt. Gibt es in fast allen Locations auf der Tour nur Stehplätze, weil es sich um kleinere, aber bekannte Clubhallen handelt, gibt es in der Ruhrgebietsstadt eben ein Gotteshaus. Und hier kommen so viele fantastische Faktoren zusammen: Weihnachtliche, kitschfreie Musik, wunderbare Akustik, eine eben auch christliche Atmosphäre im Raum, herrlich komische Gags und sehr viele feierwütige Menschen, die gefühlt von Saison zu Saison mehr Vorbereitungen treffen, um passend gekleidet zu sein, und sämtliche Energiereserven aufbrauchen, weil es sich hier eben wirklich lohnt. Übrigens ist auch dieser Stopp seit Sommer sold out. Das bedeutet knapp 900 Leute.
Wir haben 2021 und 2022 probiert, nahezulegen, warum man sich dieses irrsinnige wie gigantische Happening nicht entgehen lassen darf. Sparen wir uns dieses Mal. Wer’s immer noch nicht glaubt, kann auch 2024 zu Hause bleiben. Alle anderen haben eh bereits zwölf Kalenderseiten weitergeblättert und den 1.12. angekreuzt. Und an die richten sich die folgenden Worte:
Habt ihr auch den Eindruck, dass es von Jahr zu Jahr einfach immer noch ein Stück großartiger wird? Man glaubt zwar, dass das nicht geht. Man befürchtet auch, dass das Konzept womöglich Abnutzungserscheinungen vorweist, aber dem ist schlichtweg nicht so. Man kann sich noch so doll freuen, man kann die Weihnachtszeit lieben oder hassen – das Ergebnis ist dasselbe. Am Ende verlässt man um 22:25 Uhr nach 140 Minuten die Christuskirche und ist so aufgekratzt, so energetisch aktiviert, so weihnachtlich-besinnlich und einfach so wahnsinnig gut gelaunt. Guildo Horn enttäuscht exakt nie. Nicht mal einen einzigen Song lang denkt man „Och joa, reicht dann jetzt auch“. Schade, dass seine Ansprache am Anfang der Show, ein vier Stunden und 20 Minuten langes Programm zu spielen, nicht wahr wird.
Bei der Frage, wer im Publikum nicht das erste Mal dabei sei, heben mindestens zwei Drittel die Hand. Das ist auch optisch erkennbar, so viele leuchtende Weihnachtsbäume auf Köpfen und so viel Lametta hängt um jeden Hals. Natürlich ist es immer ein schmaler Grat zwischen „Super witzig“, „Etwas albern“ und „Zu ironisch“, aber so wie Guildo es auf der Bühne zelebriert, so macht es ihm die Crowd nach. Die Stimmung ist wie bei einem Ruhrgebietsfußballspiel, dabei hat der VfL den Tag zuvor erst verloren. Alle gehen miteinander mit Respekt um, gleichzeitig wird getanzt, als ob niemand zuschaut. Eben einfach, weil es alle tun. Würde man sich woanders unwohl fühlen, kann man hier einfach mal richtig aufdrehen.
Die fünfköpfige Band Die Orthopädischen Strümpfe tritt diese Runde zwar in etwas neuer Besetzung auf, so gibt es einen anderen Bassisten und einen anderen Gitarristen, aber das tut dem grandiosen Zusammenspiel so gar keinen Abbruch. Sollte man den Fakt nämlich immer noch nicht verinnerlicht haben: Hier spielt eine Kapelle, die so in Form, so schnell auf den Punkt und wunderbar an ihren Instrumenten ist, dass man gegen die Wand gedrückt wird. Klingt geil, ist auf einem unbeschreiblich hohen Niveau gespielt und gut abgenommen.
Darf also der Entertainer auf eine Bühne kommen, auf der nur Profis spielen, noch mehr Deko als zuvor angebracht ist und die Fans völlig ausrasten, wenn noch kein einziger Ton gesungen wurde, dann ist pure Eskalation unumgänglich. Ja, in Bochum ist Guildo Horn richtig angezündet. Er sagt selbst, dass man merkt, ob man an einem Samstagabend spielt, wenn nahezu alle am nächsten Tag freihaben, oder manche Shows auch unter der Woche stattfinden. Schließlich hat der Dezember nicht nur Freitage und Samstage und geht nicht endlos, was zu traurig ist, denn dann könnte diese Tour doch ewig gehen. Außerdem feiern wir Weihnachten doch schließlich bis Ende Julei, wie er es in seiner „Another Brick in the Wall“-Version selbst nennt. So springt er wild in den Gang zwischen den Sitzbänken, klatscht Leute ab und kehrt mit einem Kusselkopp an seinen Platz auf der Stage zurück. Stilecht.
Auch diejenigen, die hier sind, weil sie endlich mal wieder aus tiefstem Herzen lachen möchten, kommen in Bochum besonders auf ihre Kosten. So hoch war der Gag-Anteil die letzten zwei Jahre nicht. Wie gesagt, der Protagonist hat Laune. Darf man einerseits abstimmen, welches Outfit er als nächstes anzieht, gibt es andererseits Kostüm-Classics wie den Stern-Body, Försterjacke und Hut, hohe Plateauschuhe und einfach alles, was der Kleiderschrank in 60 Jahren abgeworfen hat. Der Humor bleibt trotz des völligen Wahnsinns aber immer klug und schlau, kommt schnell und im richtigen Timing, sodass es nicht ins Lächerliche kippt. Meisterleistung vom Meister.
Ein Hit-auf-Hit-Medley, ein Feuerwerk an Smashern, eine ganze Batterie voller Songs, denen man sich wirklich nicht entziehen kann. Probiere zu diesem Konzert zu gehen und nicht angesteckt zu werden, es wird dir nicht gelingen. Das Schöne: Auch wer schon mal da war, entdeckt Unbekanntes, so werden stets einige Stücke gegeneinander ausgetauscht und andere neu dazu genommen. 2023 ein wahres Brett: Die X-Mas-Guildo-Version vom „Wellerman“. Und zum Glück auch ein zweites Mal „Weihnachtsmann in Katar“ aka „Englishman in New York“, selbst wenn die Horror-WM dankenswerterweise schon gefühlte Galaxien zurückliegt. Dazwischen kommt Kult in Form von „Der feine Christbaum“ („The Final Countdown“), „Es weihnachtet sehr“ („YMCA“), „Dicker Dieter“ („Chiquitita“), „Unter dem Weihnachtsstern“ („Under the Moon of Love“) oder „Ich freu mich wie wild (Das Christkind ist da)“ („Video Killed the Radio Star“), die sich schon nach so kurzer Zeit anfühlen wie Heimkommen. Eben wie echtes, umarmendes Weihnachtsfeeling.
Uns gehen so langsam die Komplimente aus. Guildo Horn & Die Orthopädischen Strümpfe sind so Festtage wie „Last Christmas“ oder „All I Want For Christmas Is You“, nur geiler, nur spaßiger. Eine Droge, die selbst Kokosmakronen den Rang abläuft. Völlig irre, gnadenlos über jedes Ziel hinaus, selbstsicher, musikalisch hoch 1000 und schlichtweg sensationell. 2024 ist 30-jähriges Jubiläum des Konzepts. Ob’s noch krasser geht? Alles ist möglich.